2022. Nasskalter November, teils der erste Frost/Schnee in Deutschland. Am Sonntag ist erster Advent, vorweihnachtliche Stimmung mit Glühwein und Dominosteinen breitet sich vereinzelt aus. Und im Fernsehen läuft Fußball-WM (übrigens ist rund eine Woche vor Heiligabend das Endspiel)... "bitte was?" werden manche in baldiger Zukunft rückblickend sagen (so wie später unsere Enkel beim Schauen 'alter Filme': "Warum tragen die alle so komische Masken?" - "Das war damals so, Schatz!"). Seit Menschengedenken waren wir es gewohnt, die schönste Nebensache der Welt, DAS sportliche Großereignis des Erdenrunds, wie sonst im Sommer, bei Bratwurst und Bier im Garten oder im Biergarten mit hunderten anderen Fußballbegeisterten zu schauen. Warum ist das 2022 anders?
Nun, offiziell hieß es ja, weil es im Sommer in Katar mit über 40 Grad zu heiß zum Fußball spielen sei. Nein?! Doch! Oooh! Wer hätte das ahnen können, bei einem Welt-Großereignis IN DER WÜSTE! Man hatte geplant, mittels gigantischer Kühlanlagen die Stadien auf 25 Grad herunterzukühlen und wird das aktuell sicher auch machen müssen, denn auch jetzt hat es meistens noch um die 30 Grad im Wüstenstaat. Schon mal was von Klima-/Energiekrise gehört? So sitzen manche Fans nun im Pullover im kalten, deutschen Wohnzimmer, um Gas und Öl zu sparen und schauen zu, wie in der Wüste Stadien klimatisiert werden, damit dort Fußball gespielt werden kann. Jeder leistet halt seinen Beitrag. Egal. [https://www.goal.com/de/meldungen/wm-2022-winter-katar-weltmeisterschaft/blt0a3a37da254e1100]. Hätte man die WM nicht auch im Februar, März, etc. austragen können? Nein, keineswegs. Da wäre man sich bei der FIFA/UEFA mit der K.O.-Phase der Champions League in die Quere gekommen - ein anderes (finanziell bedeutendes) Großereignis. Das geht nun gar nicht.
Das sind nur zwei Argumente. Viel entscheidender: Katar hat sich die WM gekauft, aber wer frei von Schuld ist, der werfe den ersten Stein [https://www.t-online.de/sport/fussball/international/id_90625794/dfb-untersuchungsbericht-sommermaerchen-wm-2006-war-gekauft.html]. Aber davon mal ab: Katar hatte vor einigen Jahren zudem eine der schlechtesten Bewerbungen für ein solches Großereignis abgegeben und dennoch gewonnen (gut, wenn sowieso Kohle fließt, warum dann noch Mühe in die Bewerbung stecken?) - ebenso wie Russland mit der WM zuvor [https://www.zeit.de/sport/2014-11/fifa-garcia-eckert-blatter-korruption/komplettansicht]. Ein Schelm, der denkt, dabei sei alles mit rechten Dingen abgelaufen. Korruption bei der FIFA? Nicht doch!
Katars Außenminister ist "sehr stolz" und "sehr zuversichtlich", dass diese Weltmeisterschaft eine der besten sein wird, die wir je gesehen haben [https://www.tagesschau.de/ausland/asien/katar-doppelmoral-101.html]. So stolz, dass man gerne ein paar Zahlen schönt: 67.372 Zuschauer seien im Al-Bayt-Stadion zur Eröffnungsfeier gewesen, das laut der offiziellen Homepage des Ausrichters nur 60.000 Zuschauer fasst und gleichwohl man im Fernsehen massenhaft leere Reihen sehen konnte [https://www.sportschau.de/fussball/fifa-wm-2022/leere-raenge-fan-flucht-wm-eroeffnungsspiel-100.html]. Und das Land ist ja auch soooo fußballbegeistert. So sehr, dass man aufgrund des 0:2-Rückstands der eigenen Mannschaft im Eröffnungsspiel gegen Ecuador schon eine halbe Stunde vor Abpfiff den Heimweg antritt. Ansonsten steckt man auch echt im dichten Abreiseverkehr fest, da muss man schon Verständnis zeigen - da schaut man sich den Rest des Spiels wenn dann lieber im Kopfstützen-TV des SUV an [https://www.tagesspiegel.de/sport/debakel-auftakt-in-katar-das-land-in-dem-die-stadionbesucher-die-schlussphase-lieber-im-suv-gucken-8899804.html]. Oder waren das gar die ominösen gekauften Fans und wurden sie nur für die erste Halbzeit bezahlt? Man weiß es nicht. Fakt hingegen: Das katarische Gegenstück zum DFB, die Qatar Football Association, wurde immerhin schon 1960 gegründet und es gibt sage und schreibe 16 Vereine - sechzehn! Jamaika ist etwas kleiner als Katar und hat nur rund eine Mio. Einwohner mehr, aber 275 Fußball-Clubs. Nur als Vergleich.
Aber das wird bestimmt noch kommen, das mit der Begeisterung. Schließlich sollen die ganzen Stadien doch nicht umsonst gebaut worden sein. Stichwort Nachhaltigkeit. Die WM in Deutschland (2006) kostete 4,3 Mrd. US-$ - ne Menge Holz, aber auch andere Zeiten (damals kostete ein Brot beim Bäcker auch noch keine fünf Euro). 2014 in Brasilien waren es schon 15 Mrd. (muss ne alte Frau auch lange für stricken). Aber warte: In Katar waren es unglaubliche 220 Mrd.! Das 51fache der WM 2006 in Deutschland!! Sechs der acht Stadien mussten "aus dem Nichts" hochgezogen werden [https://www.fussballdaten.de/news/wm-2022/zahlen-so-teuer-ist-die-wm-f05a383d/] - die Arbeitsbedingungen sind mitunter bekannt und berüchtigt... viele warten noch heute auf ihren Lohn, über 15.000 Menschen starben zwischen 2010 und 2019 bei den Vorbereitungen/Bauarbeiten [https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/katar-fussball-wm-arbeitsmigrant-innen-tote].
Du vergibst doch auch nicht die "Minigolf Masters" auf den Mount Everest, stellst plötzlich (!) fest, dass dort ganz doofe Spielbedingungen herrschen und 18 Bahnen musst du auch erst einmal allesamt, aus dem Boden stampfen, nur um den Nepalesen Minigolf näher zu bringen! Randfakt: Australien ist der einzige Kontinent, auf dem noch nie eine Fußball-WM stattfand. Auf dem afrikanischen Kontinent war Südafrika der einzige Gastgeber (und das auch erst 2010). Gesamt Ost-Europa: Fehlanzeige. Viele potentielle Ausrichter meinen, ein (kleines) Land könnte dieses Event gar nicht allein stemmen (es sei denn, es hat beachtliche Gas- und Ölvorkommen!). Warum nicht eine WM in Skandinavien (Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark) oder in BeNeLux oder DACH (Deutschland, Österreich, Schweiz)? Selbst dort wären die Reisewege kürzer als in den USA, Brasilien oder Russland. 2021 fand (corona-bedingt) die EM 2020 auf dem gesamten europäischen Kontinent (und in Baku, Aserbaidschan) statt. War auch kein Problem.
Die Politik von FIFA und Co. soll es wohl offenbar sein (neben viel Geld verdienen), dass die Vergabe solcher (Groß-)Ereignisse (positive) Veränderungen im Vergabeland bewirken sollen. Tatsache ist, dass die jüngsten Sportgroßereignisse allesamt an autokratische Länder wie Russland (Fußball-WM 2018), China (Olympische Winterspiele 2022) und jetzt Katar vergeben wurden [https://blog.soziologie.de/2022/11/sportswashing-mit-der-fussball-wm-zur-imageverbesserung-ein-kluger-schaichzug/]. Hat sich dadurch irgendetwas zum Positiven verändert? NEIN! China ist immer noch der totalitäre ein-Parteien-Staat, der u.a. seinen Bürgern ein "Social Scoring" aufdiktiert (verhältst du dich liniengetreu, bekommst du z.B. leichter einen Kredit, wenn nicht, sind z.B. Reisebeschränkungen die Folge) oder ganze Ethnien (Uiguren) in Lagern "umerzieht". Russland... ach, lassen wir das. Katar gibt sich in seiner Eröffnungsfeier weltoffen und modern. Aber selbst in offiziellen Interviews wird offen darüber gesprochen, dass Homosexualität ein "geistiger Schaden" sei und deshalb mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug oder Stockhieben (!) bestraft wird. Da sollte sich der Schweizer Milliardär im Chefsessel der FIFA mit seiner bemerkenswerten Fremdscham-Rede vielleicht nochmal gründlich überlegen, ob er sich (heute) "homosexuell" fühle [https://www.pnp.de/nachrichten/sport/Bizarre-Aussagen-von-FIFA-Chef-Heute-fuehle-ich-mich-homosexuell-und-behindert-4490887.html].
Das Interesse hierzulande ist gespalten: Viele Sportkneipen verzichten (trotz wirtschaftlich schwieriger Zeiten) auf "public viewing" und bieten (kein Scherz) als Ersatz kritische Lesungen zum Gastgeberland an [https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/public-viewing-wm-katar-101.html]. Nur etwas über 6 Mio. Zuschauer verfolgten das Eröffnungsspiel (vor vier Jahren in Russland waren es 10 Mio.). Zum Vergleich: Das "Traumschiff" im ZDF erzielte taggleich ähnlich großen Zuspruch und den "Tatort" schauten dann wiederum knapp 10 Mio. Menschen [https://www.spiegel.de/kultur/tv/wm-2022-tv-einschaltquoten-beim-eroeffnungsspiel-deutlich-geringer-als-2018-a-fe0fa2c4-f3b3-47af-bec2-003f9833469d]. Zur Erinnerung: Im Sommer dieses Jahres fand in England die Fußball-EM der Frauen statt, welches ein Turnier der Superlative war: In Sachen Zuschauerzahlen im Stadion und vor den Bildschirmen, aber auch bei den erzielten Toren und in Sachen Fußball auf dem Rasen hat die Euro 2022 neue Maßstäbe gesetzt. Allein das Finale (ohne deutsche Beteiligung!) sahen hierzulande im Schnitt fast 18 Mio., in der Spitze fast 22 Mio.. [https://www.sportschau.de/fussball/frauen-em/fussball-em-england-deutschland-analyse-turnier-bilanz-100.html]. Wenigstens Aufmerksamkeit, wenn es monetär schon dürftig aussieht [https://www.sueddeutsche.de/sport/fussball-frauen-bundesliga-mindestlohn-lina-magull-kommentar-1.5619347].
Zurück zum Thema... Menschenrechte? Werden total überbewertet. Das Tragen von bunten Armbinden? Untersagt! Bier im Stadion? Verboten! Braucht man das (Bier) unbedingt? Nein. Muss man die Gepflogenheiten eines Gastgebers respektieren? Nun, wer die Welt sprichwörtlich zu Gast hat, sollte im wahrsten Sinne des Wortes auch "weltoffen" sein.
Fans, die nach Katar einreisen, müssen (!) sich zwei Apps auf ihr Smartphone herunterladen. Einmal wg. Corona und die andere, um den öffentlichen Nahverkehr kostenlos nutzen zu können - offiziell! Allerdings tracken die Apps auch permanent den Standort und greifen ungeniert auf den gesamten Speicher, Nachrichtenverläufe, etc. zu [https://www.chip.de/news/Zwang-zu-dubiosen-Apps-bei-Fussball-WM-in-Katar_184485272.html]. Und Journalisten wird teils genau gesagt, was sie tragen, filmen, berichten dürfen [https://www.stern.de/politik/ausland/katar--was-auslaendische-journalisten-bei-der-wm-2022-erleben-32931590.html]. Katar liegt in der Rangliste der Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen" übrigens auf Rang 119 von 180. Die iranische Kletterin Rekabi sorgte im Finale der Asien-Meisterschaften für Wirbel, weil sie in Südkorea "im Eifer des Gefechts" ohne Kopftuch antrat. Sie wurde umgehend zurück zitiert, musste sich öffentlich entschuldigen und verschwand von der Bildfläche - offiziell darf sie einem Medienbericht zufolge ihr Haus nicht mehr verlassen [https://www.tagesschau.de/ausland/asien/iran-rekabi-hausarrest-101.html] - ich bin gespannt, von wem wir nach dieser WM möglicherweise eine Weile (oder überhaupt) nichts mehr hören. Prägt Euch schon mal die Gesichter der iranischen Fußballnationalmannschaft nochmal gut ein, welche demonstrativ die Nationalhymne nicht mitgesungen haben [https://www.sportbuzzer.de/artikel/iran-spieler-singen-nationalhymne-wm-staatssender-unterbricht-england/].
Machen wir es kurz: Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Menschenrechte dürfen nicht das Ergebnis einer Fußball-WM sein. Sie müssen die Vorbedingung sein! Dieses ganze Ereignis ist eine reine Farce. #ichgucksnicht
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