Was haben Deutschland und Russland gemeinsam? Nicht viel, wird der eine oder die andere im ersten Moment vermuten. Unterschiedlicher können zwei Länder wohl kaum sein. Doch es gibt eine Gemeinsamkeit: Beide Länder sind föderale Staaten. Unter Föderalismus wird heute vorwiegend ein Organisationsprinzip verstanden, bei dem die einzelnen Glieder (Gliedstaaten) über eine begrenzte Eigenständigkeit und Staatlichkeit verfügen, aber zu einer übergreifenden Gesamtheit (Gesamtstaat) zusammengeschlossen sind. In Europa sind wir (wie auch die Schweiz, Österreich und Belgien) Russland damit näher, als beispielsweise Frankreich, Spanien oder Italien.
Aber sonst könnten die Unterschiede kaum größer sein. Groß ist das Stichwort. Russland, respektive das, was vielerorts als "Russland" bezeichnet wird (die russische Föderation) ist ein riesiges Land. Ein paar Zahlen:
- über 17.000 km² Fläche (=11% der Weltlandfläche) - das größte Land des Planeten ist in etwa so groß, wie die Kontinente Europa und Australien oder Brasilien (Platz 5) und China (Platz 4) zusammen; Kanada (Platz 2) und die USA (Platz 3) kommen zusammen auf knapp 20.000km²
- Von der Ostsee bis zum Pazifik erstreckt sich das Land auf einer Länge von über 9.000km - das ist etwa neun mal die Strecke Berlin-Paris, wofür man (einfach) mit dem Auto etwa 12 Stunden benötigen würde
- das Land hat elf der 24 Zeitzonen der Welt und bis auf die Tropen sind alle Klimazonen vertreten
- Russland hat 14 Nachbarstaaten mit gemeinsamer Grenze, wobei die Gesamtlänge der Landesgrenzen 20.027 km beträgt. Russland grenzt außerdem an fünf Meere, wobei die Küstenlinie 37.653 km umfasst.
- Die föderale Gliederung Russlands besteht aus acht Föderationskreisen und 85 Föderationssubjekten. Russland ist ein ca. 185 Ethnien zählender Vielvölkerstaat, wobei ethnische Russen fast 80 % der Bevölkerung ausmachen.
![]() |
Föderationskreise Russlands - Bild: Wikipedia |
Ein Land der Superlative also, in vielerlei Hinsicht. Wenn man ein wenig in die Geschichte schaut, stellt man fest, dass es natürlich nicht immer so war. Der älteste ostslawische Staat in der Geschichte war die "Kiewer Rus". Er entstand in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts. In ihm bildete sich eine einheitliche altrussische Völkerschaft heraus, auf deren Grundlage sich in der Folgezeit das russische, das ukrainische und das belarussische Volk formierten. Die Bezeichnung „Rus“ erhielten die Herrschaftsgebiete des Geschlechts der Rurikiden, das nach ihrem Stammesfürsten Rjurik benannt ist.
![]() |
Gebiet der "Kiewer Rus" um das Jahr 1000 - Bild: Wikipedia |
Moskau hatte da noch nicht den späteren/heutigen "Stellenwert". Unter den zersplitterten und verfeindeten russischen Fürstentümern erwies sich das kleine und unbedeutende Fürstentum Moskau jedoch bald als das durchsetzungsstärkste. Der Moskauer Großfürst Iwan der Große beendete die Mongolenherrschaft und wurde de facto zum Begründer eines zentralisierten russischen Staates, indem er Schritt für Schritt die umliegenden russischen Länder „einsammelte“. In seiner 43 Jahre dauernden Herrschaft (1462–1505) vervierfachte er das Gebiet des Großfürstentums.
Nach dem Ende der Mongolenherrschaft 1480 war aus den einstmals verfeindeten russischen Fürstentümern ein autokratisch regierter und zentral von einem neuen Dienstadel verwalteter Einheitsstaat mit Großmachtsanspruch entstanden: Das Zarenreich Russland (1547–1721).
![]() |
Ausdehnung Russlands von 1613 bis 1914 - Bild: Wikipedia |
Das Land wuchs und wuchs auch in der Zeit des Russischen Kaiserreichs (1721–1917). Diese Größe spiegelte sich dann praktisch fast 1-zu-1 zu Zeiten der Sowjetunion (1917 bis 1991) wieder.
![]() |
Physische Karte der Sowjetunion - Bild: Wikipedia |
Der Zerfall der Sowjetunion in fünfzehn unabhängige Staaten war dann ein mehrjähriger Prozess und begann mit der Unabhängigkeitserklärung Litauens am 11. März 1990. Dem Beispiel folgten Lettland und Estland und es gründeten sich elf neue/Nachfolgestaaten (Beispiele: Georgien, Kasachstan und auch die Ukraine).
Soweit zur Ausdehnung - nun zur Gliederung: Neben den ethnischen Russen gehören etwa 185 ethnische Gruppen zur "Russländischen Föderation", welche - wie der Name sagt - föderal gegliedert ist (acht Föderationskreise und 85 Föderationssubjekte). Laut Verfassung sind diese Subjekte der Föderation gleichberechtigt in ihren Beziehungen gegenüber der Zentralregierung. Staatssprache ist Russisch, die Republiken können zusätzlich eigene Staatssprachen bestimmen.
Obwohl alle Föderationssubjekte formal gleichgestellt sind, sind nur die Republiken berechtigt, eine eigene Verfassung zu erlassen. Sie können zudem internationale Verträge unterzeichnen, solange sich diese an die russische Verfassung halten. Besonderheiten der Republiken bestehen zudem in der traditionellen Namensgebung, der Anzahl der Abgeordneten in Regionalparlamenten und spezifischen Gesetzgebungskompetenzen. Die Oblaste und Kraje sind im Unterschied zu den Republiken keine Staaten. Sie verfügen nur über Statuten anstelle von Verfassungen.
![]() |
Bild: Wikipedia |
Eine Verfassung gibt den Föderationssubjekten jedoch keine Möglichkeit, aus der Föderation auszutreten. Formal gibt es in Russland aber ein Selbstbestimmungsrecht der Völker bzw. Nationalitäten, einen eigenen Staatscharakter der Republiken und damit Statushierarchien unter den ethnisch definierten Gebieten. Jedem Föderationskreis steht ein vom Präsidenten der Russischen Föderation (Putin) ernannter persönlicher und bevollmächtigter Vertreter vor, der eine Kontrollfunktion über die Oberhäupter der Föderationssubjekte (meist Gouverneur oder Präsident genannt) ausübt. Unter Präsident Putin schwinden die regionalen Kompetenzen, die Diskrepanzen zwischen den Regionen nehmen währenddessen dramatisch zu.
Soweit zur - etwas ausführlicheren - Einleitung. Wie lässt sich solch ein gigantisches Reich, mit knapp 200 Ethnien zusammenhalten (zum Vergleich: In ganz Europa zählt man etwa 120)? Putin macht auch keinen Hehl daraus, dass er Russland wieder "zur alten Stärke", wie zu Zeiten der Sowjetunion führen will - das hat er bereits 2005 formuliert und die Mittel, wie das alles gelingen soll, sind mittlerweile langläufig bekannt. Hier ist das Ganze recht gut zusammengefasst.
Die Frage ist: Wie lange geht das noch gut? Und was passiert, wenn die "Spezialoperation", der Konflikt, der Krieg in der Ukraine noch länger dauert? Russland ihn am Ende gar verliert? Selbst wenn man irgendwann Friedensverhandlungen führt - wie auch immer diese aussehen mögen. Denn Verhandlungen werden meist um Gebiete geführt. Und die Ukraine hat sehr deutlich gemacht, dass sie nicht bereit ist, etwas was ukrainisch war, an Russland abzutreten (also auch die Halbinsel Krim nicht). Wenn es nach der Ukraine geht, müsse also Russland mehr hergeben, als es vor der Invasion 2022 hatte (wobei die Annexion der Krim nur von Russland als "Landgewinn" betrachtet wird - der Rest der Völkergemeinschaft ist da anderer Ansicht). Man könnte allein angesichts der volkswirtschaftlichen Schäden und den menschlichen Verlusten mit kaum einem Argument der Welt das was-auch-immer Verhandelte noch als "Sieg" verkaufen. Putin setzt zudem immer noch auf einen kompletten Sieg über die Ukraine, welche mit dem Rücken zur Wand steht: Ihre Existenz als Staat und als Gesellschaft steht auf dem Spiel, das hat Wladimir Putin immer wieder bekräftigt. Russland hat schwere Kriegsverbrechen begangen, das ist vielfach dokumentiert. Der Angriffskrieg Putins trägt wegen seiner Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur genozidale Züge. Man habe Beweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat seine Absage an Verhandlungen vor einem Rückzug der russischen Truppen bekräftigt. Gespräche seien nur möglich, wenn Russland seine Soldaten abziehe, seinen Fehler eingestehe und es vielleicht eine neue Führung in Moskau gebe.
Unter diesen Voraussetzungen sind Friedensvehandlungen ein frommer Wunsch, ein langer Abnutzungskrieg die traurige Alternative. Aber je länger er dauert, desto schwieriger die Lage für Putin. Daraus resultiert, dass Putin bei allen evtl. Versuchen, das Steuer irgendwie herumzureißen, kaum noch als Staatschef haltbar sein wird. Es mehren sich die Stimmen, dass er auch im engsten Kreis als "unhaltbar" angesehen wird. Auch die immer wieder aufkommenden Gerüchte um seinen Gesundheitszustand machen fraglich, ob er den theoretischen Machterhalt bis 2036 durchzieht oder vielmehr "durchziehen kann". Er selbst soll bereits Pläne für ein Exil in Lateinamerika haben. Stellt sich die nächste Frage: Was kommt nach "Putin"? Auch da gibt es natürlich ein "offizielles Protokoll" - die Nachfolge ist (wie bei fast allen anderen Ländern auch) in der russischen Verfassung geregelt.
Die nächste Frage folgt jedoch auf dem Fuße: Wird der lt. Verfassung vorgesehene Nachfolger dieses Erbe auch antreten (wollen)? Oder gibt es vielleicht auch jemand ganz anderes, der (oder die?) ganz scharf darauf ist, in das 700-Zimmer-Nichts am Roten Platz einzuziehen (Kreml)? Der Machtkampf soll bereits hinter den Kulissen begonnen haben.
Und eine völlig andere, wenngleich sehr spekulative aber nicht unmögliche Variante: Könnte Russland völlig zusammen- und auseinanderbrechen? Tatsächlich steigert die Kombination aus gescheitertem Krieg im Ausland und brüchigem, überlastetem System im Inland die Wahrscheinlichkeit einer Implosion mit jedem Tag. Angesichts der enormen Ausdehnung Russlands, der langen Geschichte unruhiger Regionen und der großen Zahl nicht-russischer Ethnien – alles ein Ergebnis jahrhundertelanger imperialer Eroberungen – ist der Zerfall der zentralisierten Kontrolle und das Auseinanderbrechen der Föderation ein Szenario, das viel mehr Aufmerksamkeit verdient.
Es gibt eine reiche Geschichte von Staatszusammenbrüchen nach Kriegen, Revolutionen, Systemzusammenbrüchen, Wirtschaftskrisen und anderen epochalen Ereignissen. Nach dem katastrophalen Marsch auf Moskau und der anschließenden Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig brach das Reich Napoleons zusammen. 1918 brachen das Osmanische Reich, das österreichisch-ungarische Reich, das Deutsche Reich und das Russische Reich durch militärische Niederlagen zusammen.
Unter den heutigen Bedingungen reicht möglicherweise schon ein kleiner Auslöser, um das System zum Zusammenbruch zu bringen. Aber wenn der Funke zündet, würde ein wahrscheinlicher russischer Zusammenbruch zwangsläufig destabilisierend und gewalttätig sein. Experten/Historiker_innen zufolge würde ein Zusammenbruch mehrere Bürgerkriege nach sich ziehen, da neue (Zwerg)-Staaten miteinander um Grenzen und Wirtschaftsgüter kämpfen würden.
![]() |
Mögliche Neuordnung Russland anhand der Föderationskreise |
Kommentare
Kommentar veröffentlichen