Um vor dem heutigen Thema drei Dinge ganz klar und unmissverständlich klarzustellen:
- Ich bin ein eindeutiger Befürworter und Fan der Demokratie, bzw. des demokratischen Prozesses.
- Ich finde es richtig und wichtig, dass (wichtige) Entscheidungen im Vorfeld abgewägt und geprüft werden (was passiert wenn...?). Nicht einfach ausprobieren und dann "Ups!" - das funktioniert nur bis zu einem gewissen Grad.
- Bestimmte Menschen haben in einer Entscheidungsfindung mehr Kompetenz, manche weniger. Das ist Fakt. Und hier hat sich bewährt: Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal Fresse halten.
Mit diesem "Prolog" können wir loslegen: Der Mensch hat sich in seiner Geschichte stets fortentwickelt. Nach dem "Homo erectus" (der aufgerichtete Mensch) folgten u.a. "Homo heidelbergensis" und "Homo neanderthalensis" bis hin zum "Homo sapiens" (der moderne oder in etwa auch "der vernünftige/weise" Mensch), zu welchem wir uns heute zählen. Ich habe jedoch die Vermutung, es gibt noch eine (stille/nichtoffizielle) Weiterentwicklung:
Den "homo autem sapiens". Dem "Ja, aber"-Menschen.
Und nochmal (Verweis auf die Punkte 1 bis 3 oben): Ich bin durchaus für Diskurs. Ein bekanntes Sprichwort sagt ja: Wer aus der Vergangenheit nichts lernt, ist verdammt sie zu wiederholen - ein Zitat, das dem Philosophen George Santayana zugesprochen wird und durchaus seine Richtigkeit hat. Wir sollten, bevor wir etwas tun, erst einmal prüfen, gerne auch darüber reden, ob wir das vielleicht schon mal gemacht haben und ob es gut oder schlecht war. Und um mich nochmals als Verfechter der Demokratie zu outen, ein sehr schönes Zitat von Voltaire:
Die Meinungsfreiheit ist eines der höchsten Güter, die wir in unserem Lande haben. Wie es ohne wäre? Ein Blick gen Russland, China, Nordkorea oder auch Türkei genügt. Dieses Recht billigt auch denen Ihre Meinung, die entweder (weil wissenschaftlich belegt) vollkommen falsch ist oder im schlimmsten Fall schlichtweg menschenverachtend. Das muss eine Demokratie aber auch aushalten, solange diese Meinung die Minderheit bildet, es genug Menschen gibt, die (wirkliche) Fake-News als solche identifizieren können und infolgedessen keinen Pfifferling darauf geben. Doch so weit müssen wir gar nicht ausholen. Ein paar (normale) Beispiele gefällig? Gerne.
- Wollen wir einen großen Windpark bauen, weil wir müssen ja was "wegen dem Klima" tun (ja, ich weiß, dass es 'wegen des Klimas' heißt), dann kommen Bedenkenträger um die Ecke: Auf der Fläche kann man das nicht, weil sie viel zu nah am Wohngebiet ist. Vielleicht brütet auf dem Feld auch der tipitanische Hängebauch-Hamster.
- Just hatte die NATO ein groß angelegtes Manöver über Deutschland abgehalten, welches nach eigenen Angaben bereits 2018 geplant wurde und angesichts der Entwicklungen einige tausend Kilometer östlich sicher nicht schaden kann. Da liest man Schlagzeilen "AirDefender23 - so schlecht ist die CO2-Bilanz der Kampfjets".
- Bemerken wir (viel zu spät), dass wir ein totes Pferd reiten (Kohle/Bergbau, Verbrenner-Motoren, Atomkraft, usw.) und realisieren, dass es besser wäre umzusteigen, dann heißt es "Da hängen aber X Arbeitsplätze dran!".
Was jeder aus dem eigenen Berufsleben vielleicht kennt: Es gibt Treffen, wo viel geredet, aber wenig gesagt (und noch weniger entschieden/gemacht) wird. Klassische "Kaffeerührtermine" - da passiert sonst nicht viel mehr. Ich kann ja durchaus nachvollziehen, dass je mehr Menschen an einem Prozess, einer Entscheidung beteiligt sind, desto schwieriger wird es (besonders bei unterschiedlichen Ansichten) eine gemeinsame Lösung zu finden. Demokratie bedeutet immer auch das Finden von Kompromissen, eben weil nicht ein König oder Diktator seine persönliche (Einzel-)Meinung durchsetzt, weil es für ihn die beste Lösung ist, aber nicht für einen Großteil des Volkes. Denn:
Demokratie ist wie ein Familienurlaub - der eine will ans Meer, die andere in die Berge, der nächste lieber pennen, die andere ein Buch lesen und der letzte eigentlich lieber zu Hause bleiben. Man diskutiert und muss Kompromisse finden. Diktatur hingegen ist eine Busreise - in den Schwarzwald. Da hat jemand das Programm, das Hotel, das Essen und den Heizdeckenverkauf festgelegt. Einspruch zwecklos/unerwünscht.
So manch Berliner Autofahrer wird sich beim Anblick der "letzten Generation" auf der Straße denken "Klima schützen schön und gut, aber ich habe jetzt einen Montagetermin - neue Gasheizung bei Frau Schmidt. Weg hier, sonst komme ich zu spät!". Man tut gerne so, als wolle die "letzte Generation", dass wir alle nur noch Fahrrad fahren und ausschließlich Brokkoli essen sollen. Dabei sind die Grundforderungen lediglich ein Tempolimit von 100km/h auf Autobahnen und die Rückkehr zum 9-Euro-Ticket, zwecks bezahlbaren öffentlichen Nahverkehrs für alle. Ziel: CO2-Ausstoß reduzieren. Doch weil Sie sich für's Klima auf die Straßen kleben, sollen sie "Klima-Terroristen" sein?
Die "Ja, aber"-Mentalität zieht sich auch durch die normalen, eher unscheinbaren Bereiche des Lebens:
- "Du kannst doch nicht einfach den Müll auf die Straße werfen!" - "Ja, aber die anderen machen das doch auch!?"
- "Wolltest Du nicht abnehmen?" - "Ja, aber ich hatte so Heißhunger auf eine 32cm Salami-Pizza mit extra Käserand."
- "Langzeitarbeitslosigkeit bedeutet hierzulande oft Armut." - "Aber was ist mit den Hungernden in Afrika und Asien?"
Letzteres ist ein Beispiel für "Whataboutism" - eine Art "Nebenerscheinung" der "Ja, aber"-Krankheit. Es ist oft eine rhetorische Frage, um z.B. einen Missstand durch den Verweis auf einen anderen zu relativieren. Dabei wird auf das eigentliche Thema gar nicht mehr eingegangen. Ähnlich wurden seinerzeit vermutlich die Investitionen in (ich habe es schon das ein oder andere Mal erwähnt) Kabelfernsehen statt Glasfaser und Autobahn statt Schiene begründet. Heute jammert alles und jeder über lahmes Internet und die marode Bahn, obwohl jahrelang mehrheitlich Parteien gewählt wurden, die bekanntermaßen den Lobbyismus höher ansiedeln, als nachhaltige Ziele.
Oftmals wird so lange gegen etwas argumentiert, bis es gar nicht anders geht. Vor etwas über 100 Jahren stand London als erste Millionenstadt vor einem erheblichen Problem: Wohin mit dem Dreck und Ausscheidungen den seine Bürger_innen produzieren? Erschwerend kam hinzu: Weil die Stadt so groß war, war es praktisch unmöglich Wege zu Fuß zurückzulegen. Infolge dessen gab es in Spitzenzeiten 300.000 Pferde in der Stadt, die ihre Hinterlassenschaften ebenfalls oftmals auf der Straße hinterließen. Der Gestank war irgendwann unerträglich. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts gab es Vorschläge zur Modernisierung des Londoner Abwassersystems, die aber wegen finanzieller Bedenken immer wieder abgewiesen wurden. Durch den besonders heißen Sommer des Jahres 1858 mit Temperaturen bis 35°C erhielt das Projekt den nötigen Nachdruck, denn "Der Große Gestank" (englisch: Great Stink) drang auch in das wenige Jahre zuvor neu errichtete Parlamentsgebäude. Die Vorhänge im Palace of Westminster wurden in Chlorkalk getränkt, um sich vor der gefürchteten Cholera zu schützen. Der bestialische Geruch der Themse und die Angst vor den Miasmen ließ die Parlamentsmitglieder endlich die Dringlichkeit des Problems erkennen. Unter diesem Eindruck beschloss das Parlament umgehend ein modernes Abwassersystem zu schaffen, welches in nur rund zehn Jahren fertiggestellt wurde und als modernstes seiner Zeit galt.
Zurück zum Hauptthema: Ein ebenfalls ähnliches Phänomen: Das Ausschmücken mit, bzw. Verwenden von Phrasen und Platitüden, also belanglose oder abgedroschene Redewendungen. Sätze, die so allgemein und/oder nichtssagend sind, dass es sich kaum ertragen lässt ("Transformation und Digitalisierung müssen weiter voran getrieben werden." oder "Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht"). Gerne auch in Kombination von "Verdenglischung", also dem Benutzen von übermäßig vielen (vermeintlichen) englischen Begriffen. Paradebeispiele sind auch hier zahlreiche Branchen in der Berufswelt („Ihr heutiges Briefing wurde gecancelt, aber ich habe morgen noch einen
Slot für ein Meeting frei.“) oder (ganz banal) in Fernsehsendungen, wie "Germany's next Topmodel". Nur ein paar Auszüge, denn sonst springt im Gehirn ganz schnell die "TILT!"-Leuchte an: "Ich will nicht broke bleiben, ich will rich sein!" oder "Ich möchte, dass der Walk läuft." oder "Vivien hat Power gegeben, den Shoot zu accomplishen.“. Aber ich schweife ab - was ich sagen wollte, ist, dass mittels dieser eben genannten "Hilfen" die "Ja, aber"-Mentalität noch bis zur Unerträglichkeit ausgeschmückt werden kann.
Um auf das o.g. Beispiel mit der "schlechten CO2-Bilanz der Kampfjets" zurückzukommen: Was glaubt ihr, wie schlecht die CO2-Bilanz gerade in der Ostukraine ausfällt? Sollen wir Putin auffordern CO2-Zertifikate zu kaufen?! Und es macht durchaus Sinn, frühere Entscheidungen auch einmal zu überdenken oder gar zu revidieren. Mit dem Fall des eisernen Vorhangs und der damit folgenden Abrüstung hat man militärische Ausgaben immer weiter gekürzt. Die "Doomsday-Clock", eine symbolische Uhr, welche der Öffentlichkeit verdeutlichen soll, wie groß das aktuelle Risiko einer globalen Katastrophe ist, erreichte 1991 mit 11:43 Uhr ihren historischen Tiefstwert. Damals wurden die START-Verträge zur Abrüstung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion bzw. Russland unterzeichnet. Aktuell stehen wir 90 Sekunden vor Zwölf - so "knapp" wie nie zuvor. Mit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine bekam die Bundeswehr ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro.
Nochmal: Diskurs schön und gut. Es gibt aber heute (gefühlt) viel zu viel Gegenrede, als dass einfach mal auch etwas mit Hand und Fuß entschieden wird. Wir drehen uns teilweise so lange im Kreis, bis alle Erkenntnisse, die als Grundlage für die Diskussion galten, überholt sind - ist auch eine Möglichkeit. Im Arbeitsleben heißt es häufig auch salopp "Je länger du eine Aufgabe vor dir herschiebst, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemand anderes (oder sie sich von selbst) erledigt". Das ist aber nicht die Art und Weise, wie wir wirklich wichtige Probleme anpacken sollten. Befragt dazu (wirkliche) Fachleute (nicht nur irgendwelche "Berater"/Consulting-Firmen, die das des Beratens wegen machen), wägt ab, probiert gerne (im Kleinen) aus und kommt dann zu einer Entscheidung.
Der "Homo autem sapiens" kommt jedoch mit einem prall gefüllten Werkzeugkasten, mit eben diesen Phrasen, Platitüden, Whataboutism und Co. daher und behindert den Entscheidungsprozess erheblich. Er trägt nicht wirklich etwas dazu bei, dass eine bestmögliche Lösung gefunden wird. Es geht ihm häufig auch nur darum "es mal gesagt zu haben" bzw. (man kennt es aus dem Berufsleben, der Politik oder Eltern-WhatsApp-Gruppen) "Es ist schon von jedem gesagt worden (aber noch nicht von mir)...". Und allzu oft geht es ihm dann wirklich auch nur um das Dagegen-Sein.
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(C) Uli Stein |
Und so möchte ich für heute mit einem weiteren Zitat abschließen: Vielleicht hätte ich aufgrund meiner Position eine Verantwortung,
dazu Stellung zu beziehen. Aber deswegen habe ich nicht das Recht, zu allem
meinen Senf zu geben. (und ich weiß, dass der zweite Satz mit einem "aber" beginnt)
Oder netter formuliert: Ich wünsche mir heutzutage auch einfach mal, dass man zu einem Thema sagen kann "Da habe ich keine Meinung zu". Speziell in der Politik wird viel zu oft erwartet, dass man sich zu allem und jedem irgendwie positionieren muss. Nein, muss man nicht.
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