Was geht los da rein? Dieser Ausspruch von Brigitte Nielsen im Dschungelcamp 2012 ist irgendwie symptomatisch für die aktuelle Zeit - kannst du für alles verwenden. Optional geht auch die schöne, beinahe legendäre Fragestellung "Was machen Sachen?" aus TV Total. Sinnbildlich für all die merkwürdigen Dinge, die gerade so passieren.
Bauern/Bäuerinnen demonstrieren, Gastronomen_innen stöhnen, Pöbel pöbelt, Apotheker_innen und Lokführer_innen streiken. Legen wir uns mal da hin und schauen uns das in Ruhe an...
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Grafik: Pixabay |
Gastronomie
Da haben wir also die Gastronomen_innen. Die waren in den drei Jahren der Pandemie arg gebeutelt, derweil niemand mehr im Restaurant essen durfte. Maximal ging im "Shutdown" noch Essen abholen (also "to go"). Dafür bedurfte es dann aber kaum noch Personal und die Umsätze machte man damit auch nicht, denn ein Großteil dessen wird u.a. mit Getränken erwirtschaftet. Simples Beispiel: Eine 1,5l-Flasche Cola gibt es mitunter für (der Einfachheit halber) 1,50€. Folglich kostet ein Glas mit 0,4l Inhalt 40 Cent. Verkauft wird es aber gerne zum Zehnfachen des Preises (4€). Kurz gesagt: Es brachen Umsätze weg. Man verdiente nur noch an den Speisen. Hier half der Staat und kürzte ab dem 01.07.2020 vorübergehend (!) die Mehrwertsteuer von ursprünglich 19% auf 7%. Die Preise blieben (in aller Regel) gleich. Somit musste der Wirt/die Wirtin von einem beispielsweise Gyrosteller zu 15€ nicht mehr 2,85€ als Steuer abführen, sondern nur noch 1,05€. Diese Unterstützung wurde dann in 2023 nochmal verlängert, aber zum Jahreswechsel kehrte man zum alten Steuersatz (wie angekündigt) zurück. Die Gastronomie sieht sich jedoch angesichts der diversen Umstände in der finanziellen Bredouille: Erhöhung des Mindestlohns, gestiegene Energie- und Lebensmittelpreise sind nur drei Preistreiber. Seit mehreren Monaten wurde nun davor gewarnt, niemand könne sich mehr leisten, ein Schnitzel essen zu gehen. Gut, mal abgesehen davon, dass sich generell nur die wenigsten ein Schnitzel für 43€ leisten können: Wer sich im erwähnten Lokal Freitags oder Samstags eine Menüfolge für bislang 200 Euro leisten konnte, wird auch die Erhöhung auf 225 Euro problemlos verschmerzen können. Und die Presse pöbelt "Die Ampel macht die Pizza teurer!".
Um die generell gestiegenen Kosten aufzufangen sind manche Gastronomen_innen mitunter sehr kreativ: Da wird für das Teilen eines Toasts bzw. einen weiteren (leeren) Teller zwei Euro verlangt. Oder für zusätzliches Besteck einen Euro. Ein Sterne-Restaurant in Hamburg verlangt gar eine als "Gedeckpauschale" betitelte Eintrittsgebühr von 35 Euro. Ein schweizer Restaurant verlangt drei Franken, wenn man zum Essen kein Getränk ordert. Und mittlerweile kennen wir auch die "no show"-Gebühr von bis zu 50€/Person, welche von der bei der Reservierung hinterlegten Kreditkarte abgebucht wird, wenn man dann ohne Absage nicht erscheint. Alles wirklich sehr kreativ, aber ob die Gäste das verstehen?
Der intelligente Gastwirt hat in den Jahren zuvor immer wieder seine Preise moderat angepasst, sodass es die Gäste nun kaum mitbekommen. Eine Pizzeria aus Rheinland-Pfalz hat Preiserhöhungen komplett einen Korb gegeben, ebensowenig wolle man Abstriche bei der Qualität machen. Da auf der Karte keine cm-Angaben für die Pizzen stehen, könnte man davon ausgehen, dass vielleicht (!) die bisherige 30cm-Pizza künftig nur 28cm groß sein könnte. Es könnte beispielsweise auch zukünftig zum Trend/"Normal" werden, dass man sich, wenn man mit mehreren Leuten ins Restaurant geht, ein Gericht teilt, also Hauptgang und Beilagen beispielsweise getrennt auswählt und dann wie damals zu Hause aus einer Schüssel auftut - manch einer isst mehr, der andere weniger - weg vom starren "jeder bestellt "seins" und isst dann auch nur das.
Bäuerinnen und Bauern...
...werden Steuersubventionen gestrichen. Da ist der bisherige Groll mit Kritik an einem globalen Markt, der sie zu immer größeren Höfen mit immer kleineren Verdienstmargen zwingen würde oder das Gefühl der "Gängelei" durch Auflagen zu Tierwohl und umweltgerechtem Anbau und Produktion sowie einer zunehmenden überbordenden Bürokratie nur das, was das Fass gefüllt, aber nicht zum Überlaufen brachte. Ein Kritikpunkt ist der geplante Wegfall der Kfz-Steuerbefreiung für die landwirtschaftlich genutzten Traktoren. Ferner sollte also die Agrardiesel-Subvention gestrichen werden. Kein Traktor, kein Mähdrescher und kaum eine Maschine in der Landwirtschaft funktioniert ohne Diesel: Der Antrieb von Traktoren und Agrar-Maschinen erfolgt flächendeckend mit dem Kraftstoff, während elektrische Antriebe praktisch nicht vorkommen. Auf den Feldern liegt der durchschnittliche Verbrauch zwischen 110 und 120 Liter Diesel pro Hektar, wie der Verein Information Medien Agrar schätzt. So entstehe in der Land- und Forstwirtschaft ein Verbrauch von etwa zwei Milliarden Liter Diesel pro Jahr in Deutschland. Bislang können sich Landwirte 21,48 Cent pro Liter Diesel, den sie mit ihren Traktoren auf den Feldern verfahren, vom Bund zurückerstatten lassen. Aktuell tanken Landwirte mit Traktoren und Landmaschinen zwischen 40 bis 200 Liter Diesel je Hektar und Jahr, wobei ein Betrieb im Durchschnitt rund 63 Hektar bewirtschaftet. Eine Ladwirtsfamilie mit rund 100ha und vier Maschinen (12.000l Diesel/Jahr) wäre allein mit KfZ-Steuer bei 4.000 bis 5.000 Euro. Der Diesel verteuert sich bei den o.g. Angaben auch nochmal um fast 2.600,-. Das ist in Summe eine Menge Geld keine Frage.
Und damit wir uns ganz klar verstehen: Ja, die Selbstmordrate unter Bäuerinnen und Bauern ist hoch: Nach einer Erhebung aus dem Jahr 2017 nehmen sich in Frankreich jährlich etwa 650 Landwirte das Leben. Manche Verbände sehen die Zahl sogar noch höher, da viele Fälle aus Versicherungsgründen – oder auch Scham – nicht als Selbsttötung gemeldet werden. Diese offizielle Suizidrate liegt 50 Prozent höher als in der übrigen Bevölkerung. Rund 80 Prozent derjenigen, die freiwillig aus dem Leben scheiden, sind Männer. In Deutschland gibt es keine offizielle Erhebungen dazu, aber man schätzt ähnliche Zahlen. Ja, Bäuerinnen und Bauern sorgen dafür, dass wir Essen auf dem Teller haben und dass teils 24/7 - Kühen und Feldern ist der Wunsch nach Urlaub herzlich egal. Volles Verständnis.
Aber: Zum einen ist der Abbau nicht schlagartig, sondern passiert schrittweise bis 2026. Zum anderen ist es mit Subventionen immer (!) so, dass sie alle zahlen und nur wenigen nützen. Außerdem: Die Ertragslage der Landwirtschaft hatte sich nach Branchenangaben zuletzt verbessert. Im Ende Juni abgelaufenen Wirtschaftsjahr 2022/23 stieg der durchschnittliche Gewinn der Betriebe auf das Rekordniveau von 115.400 Euro – ein Plus von 45 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der Protest der Bauern gegen die Abschaffung der Agrardiesel-Subventionen stellt die falschen Forderungen, sagt sogar besagte Landwirtin. In den Protesten sind Plakate mit "Zieht der Ampel den Stecker" noch die harmlosere Form des Protests. Andernorts werden gerne Galgen mit Ampelzeichen aufgestellt - unterschwelliger kann eine Botschaft kaum sein, die Polizei ermittelt. Ferner gibt es Solidarität z.B. von Spediteuren, aber es werden beispielsweise auch Postfrachtzentren mit Treckern blockiert, wodurch LKW-Fahrer ihre Touren nicht fahren können. Statt über die Agrardiesel-Prämie solle man lieber über faire Preise reden. Suchen nach Lösungen, statt nach Schuldigen.
By the way: Nachlässe bei Kraftfahrzeugsteuer und Agrardiesel sind nicht die einzigen Subventionen für Bäuerinnen und Bauern. Hinzu kommen Hilfen für Junglandwirte, Ausgleichszahlungen für Höfe in benachteiligten und auch gar nicht so benachteiligten Gebieten, Zuschüsse des Bundes zur Sozialversicherung, Hilfen der Bundesländer für Umweltprogramme, von neuen Hilfen für Strom und Stallumbau ganz zu schweigen.
Paradox: Während die Proteste der Letzten Generation seit Monaten für Unverständnis, Wut und harsche Kritik sorgen, und die Forderungen der Aktivist_innen politisch kaum mehr Beachtung finden, ist das bei den Landwirt_innen gänzlich anders. Bei den Protesten stehen aber tendenziell die gleichen Leute im Stau. Ob nun aufgrund von Sekundenkleber oder Traktoren. Warum werden Wut und Ärger der einen anerkannt, während Angst und Verzweiflung der anderen auf Unverständnis stoßen?
Apotheken
Zuletzt gab es aufgrund Unzufriedenheit mit dem Gesundheitssystem massive Proteste und kurzfristig geschlossene Apotheken und auch Arztpraxen im Streik. Da ist der Versorgungsengpass mit Medikamenten die eine Sache, Unzufriedenheit mit dem digitalen Rezept die andere. Auch in diesem Berufszweig machen sich Existenzängste breit, begründet durch gestiegene Betriebskosten und Personalmangel. Die Gehälter sind den Verbandsangaben zufolge seit 2004 nicht gestiegen. Die Zahl der Apotheken in Deutschland nehme in Folge seit Jahren ab. Zwischen Januar und September 2023 hätten bundesweit 335 Apothekengeschäfte zugemacht. Mit rund 17.700 Apotheken in Deutschland ist laut Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände ein neuer Tiefstand erreicht. Weniger gab es seit 44 Jahren nicht mehr.
Und auch um es hier klarzustellen: Medizinische Versorgung ist wichtig. Mangel an Medikamenten, bzw. die seinerzeitige Verlagerung der Produktion nach Fernost, kritisch. Und jede/r soll mit seinem Einkommen auskommen - nicht ganz zu Unrecht spricht der Volksmund aber auch von "Das ist ja auch ne Apotheke!" wenn ein Laden mit sehr hohen Preise aufwartet.
Zum E-Rezept: Apotheken sind prinzipiell bereits seit dem 1. September 2022 flächendeckend in ganz Deutschland in der Lage, E-Rezepte einzulösen. Diese Neuerung kommt also ebenfalls nicht "über Nacht". Natürlich braucht ein neues System etwas Anlaufzeit, um auch Kinderkrankheiten in den Griff zu bekommen. Aber deswegen direkt in den ersten zwei Wochen alles schlecht reden? Zur Verfügbarkeit von Apotheken: Teilweise kommt es mir vor, Apotheken eine ähnliche Dichte wie Friseure, Wettbüros, Döner-Läden. Randfakt: Eine gesetzliche Regelung gibt vor, dass in Wohngebieten nicht mehr als 1.000 Meter zum nächsten Briefkasten zurückgelegt werden muss. Bei uns in der Stadt sind im Umkreis von rund 1km um den Marktplatz neun Apotheken zu erreichen... NEUN! Zwei, welche einem Ehepaar gehören, liegen nur 300 Meter voneinander entfernt, wovon nun eine nach gefühlt 400 Jahren schweren Herzens schließen muss...aufgrund diverser Umstände.
Lokführer_innen
Geht es nur mir so, oder ist das die Branche, die sich gefühlt mehr im Streik als im Arbeitsmodus befindet? Nur nochmal zur Sicherheit: Jede/r soll fair bezahlt werden - keine Frage. Bei dieser Branche kommt es mir jedoch vor, als ob mind. jährlich gestreikt wird, so regelmäßig und zuverlässig wie die Tariferhöhung der DB. Ich hingegen habe noch nie in meinem Leben für höhere Löhne oder sonst etwas gestreikt. Ich meine mal ganz plakativ und überspitzt: Wenn ich beim Discounter an der Kasse sitze, aber lieber das Gehalt eines Gehirnchirurgen hätte... ähm, tja, dann "Augen auf bei der Berufswahl". Entweder muss ich schauen, ob der Wechsel des Arbeitgebers etwas bringt (ja, beim Quasi-Monopolist Deutsche Bahn schwierig, verstehe ich, aber auch hier gibt es ja mittlerweile private Anbeiter) oder mich beruflich grundlegend umorientieren. Noch nie war es so einfach als Quereinsteiger_in in einem komplett neuen Beruf durchzustarten als heute. Wir haben schließlich einen Arbeitnehmer-Markt - haben die Menschen, die vor Corona in der Gastronomie tätig waren schlließlich auch hinbekommen.
Auch wenn der Vorschlag etwas hinkt, da die Lokführer_innen ja nicht Fahrscheine kontrollieren: Aber viel effektiver, als nicht zu fahren, wäre, die Passagiere kostenfrei mitfahren zu lassen, also keine Fahrscheine zu kontrollieren. Das würde die Bahn sicherlich viel empfindlicher treffen. Dafür müssten sich aber halt die Kontrolleure_innen mit den Lokführer_innen solidarisch erklären.
FAZIT
Es gibt sicher noch andere Branchen, die in diesen Beitrag passen würden, daher ist die Liste formell als unvollständig zu betrachten. Versinnbildlichen soll sie folgendes: Ja, es ist notwendig, dass man auf die Straße geht, um auf einen Missstand aufmerksam zu machen. Aber: Ist es nicht viel sinniger, mit Weitsicht zu agieren, das ganze Große im Auge zu behalten/bei seinem Tun zu berücksichtigen und ganz allgemein nicht ständig zu sagen "alles scheiße!", sondern nach Lösungen zu suchen und diese umzusetzen?
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