Es gibt Länder, da geht es anders zu, als man es hier gewohnt ist. Das ist per se erst einmal nichts Verwerfliches, sondern hat mit Kultur und Historie zu tun. Ein paar Fakten, welche deutlich machen, dass wir hier nicht von Nordkorea o.ä. sprechen:
- In der Türkei leben ca. 85 Mio. Menschen, der Altersdurchschnitt ist mit etwa 31 Jahren im int. Vergleich sehr jung (Vergleich DE: 45 Jahre).
- Gemessen am Index der menschlichen Entwicklung zählt die Türkei zu den sehr hoch entwickelten Staaten.
- Mit etwa 50 Mio. Touristen liegt die Türkei auf Platz sechs der meistbesuchten Länder der Welt (Platz vier in Europa).
- Die Türkei ist ein Schwellenland
mit mittlerem Einkommen und erbrachte 2016 kaufkraftbereinigt immerhin die
dreizehntgrößte Wirtschaftsleistung der Welt.
- Die Türkei ist unter
anderem Mitglied der OECD, der NATO, der Vereinten Nationen, der G20 sowie der Organisation für Islamische Zusammenarbeit. Seit 1999 ist die Türkei darüber hinaus offiziell ein EU-Beitrittskandidat und auch außenpolitisch steht die Türkei den westlichen Staaten näher.
So weit, so gut. ABER...
- Seit 2003 steht der derzeitige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan an der Spitze des Landes (Putin ist in Russland seit 2000 an der Macht). Seit ungefähr 2012 führt er das Land zunehmend autoritär. Besonders die Meinungs- und Pressefreiheit gilt als stark eingeschränkt.
- Nach dem Putschversuch 2016 herrschte in der Türkei der Ausnahmezustand, dieser wurde vom Parlament regelmäßig verlängert und lief im Juli 2018 aus. Dadurch ist die Verfassungswirklichkeit in der Türkei weit von einem parlamentarischen System entfernt und entspricht einem Präsidialsystem. Mit den erweiterten Rechten der Exekutive, insbesondere des Staatspräsidenten, hat sich im Wesentlichen gegenüber dem zweijährigen Ausnahmezustand nichts geändert.
- Im aktuellen Demokratieindex rangiert die Türkei auf Platz 103 (von 167).
- Die Türkei gehört zu den Ländern mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit (allein in den letzten sechs Jahren waren es über 600 - eines der prominentesten Gesichter war 2017 der Welt-Korrespondent Deniz Yücel) und belegt in der Rangliste der Pressefreiheit 2023 Platz 165 von 180 - noch hinter Russland.
- Mit der Mehrzahl seiner Nachbarländer hat die Türkei ein stark angespanntes Verhältnis, bspw. Griechenland, Armenien und Irak. Nordzypern (seit 1974) und Nordsyrien (seit 2016) hält die Türkei sogar militärisch besetzt, was bei den meisten Völkerrechtlern als völkerrechtswidrig gilt.
- In Bezug auf Menschenrechte wird die Türkei der Freedom-in-the-World-Länderliste 2018 der internationalen Nichtregierungsorganisation "Freedom House" mit lediglich 32 von 100 Punkten bewertet [1 = miserabel; 100 = exzellent]
Kritische Karikatur von Carlos Latuff über die Einschüchterung der Presse durch Präsident Erdogan
Und mehr noch: Statt sich unter die "Top Ten" der weltgrößten Wirtschaftsnationen vorzuarbeiten - wie das angekündigte Ziel des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan war - ist die Türkei in der Rangliste von Platz 17 auf 19 abgerutscht. Das prophezeite Pro-Kopf-Einkommen von 25.000 Dollar wurde nicht erreicht, stattdessen ist es von 11.300 auf 9.300 Dollar gesunken. Der Preis für ein Kilo Zwiebeln in der Hauptstadt Ankara hat sich innerhalb der letzten 18 Monate verfünffacht. Die Lira ist auf Talfahrt und hat seit 2021 gegenüber dem Euro die Hälfte ihres Wertes verloren, die Teuerung liegt bei rund 44 Prozent. Im Oktober 2022 erreichte sie mit einer Inflationsrate von über 80 Prozent ihren Höhepunkt. Dazu die Kritik am Katastrophenschutz nach dem verheerenden Erdbeben.
Man könnte meinen, keine guten Voraussetzungen für den Amtsinhaber. Dennoch: Erdogans religiös-konservative AKP wird erneut als stärkste Kraft in das Parlament einziehen. Und Randfakt: Bei der Präsidentschaftswahl am 14.05.2023 stimmten nicht nur die in der Türkei lebenden Menschen ab, sondern auch die rund 1,5 Mio. in Deutschland lebenden Deutsch-Türken. Und das durchaus differenziert zu ihren Landsleuten: Hier holte Amtsinhaber Erdogan 65,4% der Stimmen, sein Rivale Kilicdaroglu nur 32,61%. Im Gesamtergebnis verpasst Erdogan mit 49,4% knapp die absolute Mehrheit. Sein Herausforderer erreichte 44,96%. Die Präsidenten-Entscheidung fällt in der Stichwahl. Die Wahlbeteiligung lag bei stattlichen 89%. Und rund das halbe Land steht unter Schock und fragt sich, wie das passieren konnte.
Und hier frage ich mich zum einen: Warum erzielt ein Präsident, der mit wachsender Beständigkeit Menschenrechte, Pressefreiheit und einiges mehr aushebelt, Medien (TV und Presse) gleichschaltet, immer noch knapp 50% der Stimmen im eigenen Land? Und zum anderen: Warum wählen über 65% der in einer Demokratie lebenden Türken_innen, ein mit den Jahren mehr und mehr deutlich autoritäres Staatsoberhaupt?
Scheibchenweise von der Demokratie zur Diktatur
Und das obwohl sie durch die hierzulande freie Presseberichterstattung eigentlich bestens informiert sein sollten, was in der Türkei geschieht? Ich meine, wenn man in Russland kaum Infos über das Internet erhält und im Staatsfernsehen nur das sieht, was die Propaganda für gut befindet, kann ich die Diskrepanz einigermaßen nachvollziehen. Doch das Problem liegt wohl daran, dass die Mehrheit der Wähler in Deutschland vorwiegend konservative Familien sind, die auf das Bild einer starken Türkei setzen. Hinzu kommt, dass viele Deutsch-Türken Nachrichten zur Türkei hauptsächlich über die (türkischen) TV-Medien konsumieren, und die TV-Landschaft in der Türkei ist wie erwähnt sehr einheitlich.
Viele Türken_innen leben hierzulande
auch im Exil, derweil ihnen in ihrer Heimat Spionage und
Terrorpropaganda vorgeworfen werden und würden bei einer Abwahl Erdogans
sofort in den nächsten Flieger steigen und zurückkehren.
Hier in (Zentral-)Europa gucken wir immer auf Dinge wie den Abbau von Rechtsstaat,
Demokratie und Menschenrechten, aber für den Alltag eines Bauern in
Zentralanatolien ist das wohl von untergeordneter Bedeutung. Eine Wahl von Kilicdaroglu hätte politisch zur Folge, dass er mit
einem Parlament zusammenarbeiten muss, das von Erdogans AKP dominiert wird.
Und diese AKP wird ihm Knüppel zwischen die Beine werfen – sodass ein
Zurück zur parlamentarischen Demokratie nicht möglich sein wird - die Türkei wird wohl weiter nach rechts wandern. Ein "türkischer Frühling" wird noch auf sich warten lassen.
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