Was im Titel klingt, wie ein banaler Kalenderspruch, ist harte Realität. Wir alle weilen nur eine gewisse Zeit auf diesem Erdenrund. Verglichen mit der Existenz unseres Planeten, maximal ein Wimpernschlag. Doch etwa ein Jahrhundert machen wir das Beste draus und tragen unser kleines Päckchen dazu bei (im besten Fall) die Welt ein bisschen besser zu machen, für andere da zu sein oder manchmal auch wirklich Großes zu leisten, was der Nachwelt in denkwürdiger Erinnerung bleibt. Einige Wenige schaffen es bei den Alterszahlen sogar ins Dreistellige, viele müssen teils aber schon erheblich früher abtreten. In der Vergangenheit habe ich hin und wieder die Todesanzeigen in der Zeitung überflogen. Ich habe mit der Zeit immer mehr die Jahrgänge der 1940er, 50er oder gar 60er lesen müssen. Meine Geschwister sind allesamt in den 1960ern geboren. Meine Eltern sind Jahrgang 1937 und 1936. Stets habe ich mich gefragt, wann wird es soweit sein? Wann laufe ich den Weg vom Treppenhaus bis zur Wohnungstür, wo nur noch ein Elternteil wartet.
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Bild: Pixabay |
87 Jahre hat meine Mutter "geschafft". An und für sich ein "stolzes" Alter. Geboren am 07. März 1936, gestorben am 30.08.2023. Meinem Geburtstag. Meinem 50. Geburtstag. Klar, man sucht sich das weder aus, noch gibt es "den perfekten Tag" für den Tod. Aber mein "Ehrentag" wird nie wieder derselbe sein. Ob ich ihn jemals wieder feiern mag, mehr als fraglich. Ich weiß es nicht, so wie ich derzeit allgemein sehr wenig weiß oder vielmehr denken kann. Gott verdammt, das Jahr hat 365 Tage, warum ausgerechnet an diesem?! Wenn meine Mutter keine Urnenbeisetzung in einem Friedwald gewünscht hätte, gäbe es einen Grabstein, auf dem für immer das Datum meines 50. Geburtstages stehen würde.
Ich hatte mich bereits oft in Phasen des Lebens wiedergefunden, wo ich das Gefühl hatte, alles schon (mindestens) 1.000 Mal gegessen, jedes Lied schon 1.000 Mal gehört und alles Mögliche 1.000 Mal gesehen, gesagt, getan zu haben. Ich hatte keine Lust auf gar nichts. Eine unglaubliche Leere machte sich innerlich breit. Und genauso ist es jetzt auch... eine Leere, wie ich sie noch nie zuvor gespürt habe. Es fühlt sich surreal an, ich kann es nicht wirklich fassen. Wenn man jetzt dorthin fährt, ist jemand nicht mehr da. Sie ist weg, für immer. Meine Mutter wird nicht mehr auf dem Sofa sitzen. Nur noch mein Vater, allein. Sie hätten in rund zwei Wochen 52. Hochzeitstag gehabt. Jetzt ist er allein. Ich hatte nicht einmal Gelegenheit hinzufahren, mich ans Bett zu setzen, ein paar letzte Worte mit meiner Mutter zu wechseln, Abschied zu nehmen. Sie kam ins Krankenhaus, weil es ihr "nicht so gut ging" - ich erfuhr erst mit Verzögerung davon. Meine Schwester, die meine Mutter besuchte, erzählte, dass ich meiner Mutter sehr wichtig war, sie sich darum gesorgt hatte, dass man meinen Geburtstag nicht vergessen soll. Das macht es für mich nicht wirklich besser - im Gegenteil. Vorwürfe zerfressen mich.
Es kam dann alles doch sehr plötzlich. Montagabend Not-OP, Chancen 50/50. Mein Bauchgefühl vermutete bereits einen Anruf mitten in der Nacht. Einer dieser Anrufe, die man nicht bekommen möchte. Zweites Bauchgefühl/böse Vorahnung: Was, wenn sie die OP gut übersteht, aber dann an meinem Geburtstag stirbt? Dann: Entwarnung. (Lebensnotwendige) OP gut überstanden. Aber: Intensivstation. Weiterhin Narkose/Koma. Für den Samstag war eine große Feier geplant, seit Monaten. Saal gemietet, 40 Gäste, Catering, mit allem Pi-Pa-Po. Du fragst dich, kannst du feiern? Sollst du feiern? Möchtest du feiern? Wird es einen (guten) Grund zum Feiern geben? Ich frage meine Nichte um Rat, weil ich nicht klar denken kann. Sie sagt, "Ich kann dir die Entscheidung nicht wirklich abnehmen. Hör' auf Dein Bauchgefühl! Wenn du feiern möchtest, kommen wir selbstverständlich. Wenn nicht, verstehen wir das vollkommen.". Dann Mittwoch früh Telefonat mit meinem Vater. Er gratuliert mir zum Geburtstag, wirkt zuversichtlich, was meine Mutter angeht. Am Nachmittag soll nochmal eine Kontrolle erfolgen, ob es nach der OP irgendwelche Komplikationen gibt. Ich gebe - aus einem weiteren Bauchgefühl heraus der Dame vom Catering mittags das "Go!", lass uns am Samstag feiern. Es muss ja eine Entscheidung her. Rund drei Stunden später, Mittwochnachmittag: Anruf meiner Schwester. Das Krankenhaus in Hameln rief an, sie sollen sofort kommen, es sähe nicht gut aus. Ich bin rund 70km, im günstigsten Fall (ohne Stau) eine Autostunde entfernt, frage, ob ich es noch schaffen würde... selbst mein Vater, meine Schwester und meine Nichte haben die 20km nicht mehr rechtzeitig geschafft. Zwei Mal mit dem Bauchgefühl falsch gelegen, ein Bauchgefühl stimmte - meine Mutter starb an meinem Geburtstag etwa gegen 15:30 Uhr.
Die Welt stand für ein paar Stunden still. Ich fahre zu meiner Familie in Springe. Es regnet in Strömen, wie in einem schlechten Film, als hätte Hollywood das Drehbuch für diesen Tag geschrieben. Dort angekommen: Die Stimmung ist gedrückt. Zu oft weiß man nicht, was man sagen soll. Auf dem Küchentisch liegen Papiere, der Ausweis und die Krankenkassenkarte meiner Mutter. Meine Nichte muss die Karten mit den Fotos umdrehen - ich kann sie gut verstehen. Es wird oft geweint. Man spricht über die Vergangenheit, Belangloses und die anstehenden Schritte. Ich fahre wieder nach Hause. Meine Frau und die Kinder haben mein Geburtstagsgeschenk auf dem Tisch drapiert - ach ja, da war noch was. Ich weine. Melde mich für einige Tage bei der Arbeit ab und auch von diversen politischen Sitzungen. Ich habe da keinen Kopf für. Ich muss den Gästen für Samstag absagen. Hoffe, dass ich schnell genug bin und niemand vorher zu einem Anruf durchkommt, um "Happy Birthday" zu singen - das stehe ich nicht durch. Alle sind informiert, alles "gut gegangen". Stattdessen trudeln die Beileidsbekundungen ein. Ich hätte vielleicht doch noch einen Satz hinzufügen sollen. Ich finde keine Kraft für Kommunikation, die Nachrichten bleiben unbeantwortet, "ungedankt", ich schalte das Handy auf lautlos. Plötzlich, warum auch immer jetzt, schießt mir durch den Kopf, dass im Keller Getränke für rund 400 Euro stehen - egal, müssen wir zumindest die nächsten Monate nicht einkaufen. Der Mensch plant und Gott fällt lachend vom Stuhl.
Es stellt sich die Frage nach dem Sinn, so mehr dem "ganz großen Sinn". Ich möchte nachdenken, einen klaren Kopf bekommen, Gefühle sortieren. Aber es gelingt mir nicht. Das Alltags-Karussell nimmt langsam wieder Fahrt auf, dreht sich schon wieder unermüdlich weiter... die Lütte ist frisch (5. Klasse) auf das Gymnasium gekommen. Für sie ist dort alles neu, sie kommt mit der Situation (dem Tod ihrer Oma) auch eher so "semi" klar (mussten sie bereits zwei Tage rausnehmen), dennoch wollen Hausaufgaben erledigt werden. Der Große macht gerade sein erstes Praktikum, brauchte auch einen Tag "Pause", um den Schock zu verdauen. Tiere, Haushalt und dann auch noch die Haus-Sanierung in vollem Gange: Von Montag bis Mittwoch wurde das Außengerät der Wärmepumpe installiert, der halbe Garten umgegraben und einen Pflasterer brauchen wir nun auch noch zusätzlich. In gut vier Wochen kommt das Innengerät. Bis dahin muss der Heizungskeller leer sein, wovon er aktuell so weit entfernt ist, wie man es nur träumen kann. Dafür muss eine Wand im Vorratskeller gedämmt werden, damit das Gerümpel aus dem Heizungskeller dorthin kann, ansonsten braucht es einen zweiten Lagerraum. Eine zusätzliche Tür kommt auch in Kürze. Eines hängt am anderen und absagen ist keine wirkliche Option. Die Handwerker sind lange im Voraus beauftragt, ziehen wir es jetzt nicht durch, haben wir im Winter keine Heizung, da die Gasheizung derzeit nur noch Warmwasser produziert... auch so ein Scheiß-Spruch: Man muss einfach funktionieren. Es ist, als ob jemand am Karussell netterweise ganz kurz angehalten hat und jetzt ruft "Jetzt wieder dabei sein, das macht Spaß, die nächste Runde geht rückwärts!!! Jetzt geht's AB, AB AB!!!". Der ganz normale Alltags-Wahnsinn geht unvermindert weiter. Du hörst im Radio die Kaufland-Krähe mit ihrem Dauergrinsen jubilieren "Frische Tomaten, das Kilo für nur EINS NEUNUNDVIERZIG!!!" als hätten sie ein Heilmittel gegen Krebs erforscht - ich brülle ihr innerlich entgegen "HALT! DIE! FRESSE!". Es ist einfach alles zu viel.
Es fühlt sich derzeit an, als ginge ich durch nassen Sand - hüfthoch. Jeder Tag ist irgendwie Berg und Tal. Manchmal bedeutet die Bereitschaft aufzustehen, sich die Zähne zu putzen oder eine Hose anzuziehen, "Hey das wird ein guter (oder wenigstens "besserer") Tag!". Ich weiß durchaus noch was Freude ist, aber spüren kann ich sie momentan nicht - sie scheint unendlich weit weg verreist zu sein. Ich bin wie ein Zimmer, durch das der Wind weht, der alles betäubt und ich habe Gedanken, die so schwer sind, als würde ich bergauf rudern. Und alles in meinem Kopf ist zugestellt mit "WOZU?'s". Was viele "Alltag" nennen, ist für mich nicht selten wie eine Mauer. Und: Ich schäme mich... ohne Grund, das weiß ich. Aber auch dafür schäme ich mich... ohne Grund.
Es gibt diese Art von Frage, auf die man nicht wirklich weiß, was man antworten soll: Wenn du wissen könntest an was oder an welchem Tag du sterben wirst, was würdest du wählen? Ist es wirklich sinnvoll zu wissen, ob du an einem Darmverschluss oder durch einen Verkehrsunfall sterben wirst? Wirst du dich daraufhin womöglich gesünder ernähren oder fortan nie mehr das Haus verlassen? Oder wenn du den Tag und vielleicht sogar die Uhrzeit wüsstet - was würdest du anders machen? Die restliche Zeit intensiver leben? Was machst du einen Monat vor der "Deadline"? Eine Woche vorher? Am "Tag X" selbst?
Durch solch ein Ereignis beschäftigt man sich mehr mit dem (eigenen) Ableben als zuvor. Gemessen an meiner Mutter ist die "Halbzeit" bei mir schon einige Jahre rum. Wie wird das bei mir sein? Sollte ich meine Patientenverfügung mal aktualisieren? Habe ich meine Eltern in der Vergangenheit zu selten besucht/sollte ich meinen Vater künftig häufiger besuchen fahren? Anderer Gedanke: Unsere Großeltern und teils auch unsere Eltern hatten "das gute Geschirr" oder "den guten Anzug", was nur für besondere Anlässe hervorgeholt wurde. Früher gab es auch die "gute Stube" in die Besuch geführt wurde, während man selbst den Alltag in einem anderen, schlichteren Zimmer (oftmals die Küche) verbrachte. Okay, allein aufgrund der Immobilienpreise haben wir heute gar nicht wirklich den Raum für ein extra Besucherzimmer. Aber: Sind diese gewissen Dinge, die man nur ab und zu nutzt, weil sie so kostbar und wertvoll und daher viel zu schade sind... nicht eigentlich viel zu schade dafür? Sollten wir nicht jeden Tag das Lieblingskleid anziehen, von unserem schönsten Teller essen? Zu viele Fragen, zu wenig Kraft zum Denken, zu wenige Antworten.
Was bleibt? So klischeehaft es klingt, aber der Tod gehört zum Leben dazu. Er ist unausweichlich. Wann immer ein geliebter Mensch (oder auch Hund, Katze, etc.) von uns geht, bleibt uns nur ein Trost: Dass die gemeinsame Zeit so lang war, dass sie für jede Menge schöne Erinnerungen reicht. Denn diese tragen wir immer im Herzen und überdauern den bitteren, traurigen und schmerzvollen Verlust.
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