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Stell' dir vor du gehst zur Wahl - und hast keine

Putin hat sich (erneut) zum Präsidenten wählen lassen. Na Glückwunsch! Mit einem "Rekordergebnis" und drei "proforma-Gegenkandidaten", nachdem eine echte Opposition erfolgreich bereits an der Kandidatur gehindert wurde, indem man einfach unterstellte, die Unterstützer-Unterschriften seien gefälscht worden

Seit knapp einem Vierteljahrhundert regiert er das Riesenreich und sicherte sich nun seine fünfte Amtszeit. Lediglich sein weissrussischer Kumpel Lukaschenka ist da schon weiter: Der ist in seiner sechsten Amtsperiode und feiert dieses Jahr 30jähriges. Wenn wir schon beim Schwanzvergleichen sind: Bereits 21 Jahre im Amt, sein türkischer Freund Erdoğan. Auf immerhin 20 Jahre (weil mit Unterbrechung) bringt es sein ungarischer Kumpan Orban. Geradezu lächerlich wirken da die gerade einmal dreizehn Jahre von Kim Jong-un in Nordkorea oder die elf Jahre von Xi Jinping als Staatspräsident Chinas - beide übrigens mit den Titeln "oberster" bzw. "überragender Führer" gekrönt. Da waren ja hierzulande sogar Kohl und Merkel länger an der Macht (je 16 Jahre).

Im Vorfeld der Wahl wurden Rentner_innen von der Wahlkommission besucht und ihnen wurde gesagt, dass sie sich in die Wählerverzeichnisse eintragen müssen (!). Stifte mit spezieller Tinte sollen in zahlreichen Wahllokalen eingesetzt werden. Die Tinte, wenn erhitzt, verschwindet gänzlich vom Wahlzettel und bietet somit Gelegenheit für "Korrekturen". Schon "ein alter Hut": Die gläsernen Wahlurnen, wo im Grunde gar nichts "geheim" bleibt. Es soll vorgekommen sein, dass lediglich eine sehr geringe Anzahl an Bürger_innen ins Wahllokal gelassen wurden, dies erklärt auch die langen Warteschlagen auf den Straßen, da drinnen praktisch niemand allein gelassen wurde. Da wurde dann sehr genau hingeschaut, ob das Kreuz auch richtig gesetzt wurde - teils wurde man sogar in die Wahlkabine begleitet bzw. über die Schulter geschaut. Näherte man sich der Wahlurne, wurde ebenfalls ganz genau darauf geachtet, dass nichts Unerwünschtes passiert. Allerdings nicht von unabhängigen Wahlbeobachtern, denn diese wurden so im Wahllokal platziert, dass sie die Urne nicht mal im Blickfeld haben konnten. Frontal21 hat diese Methoden sehr schön zusammengefasst.

Der "irre Iwan" wird sich durch diese "manipulierteste Wahl seit 30 Jahren" bestätigt sehen. Ein Präsident ohne Programm, blasse Gegenkandidaten die voll auf Kreml-Linie sind, dubiose Abstimmungsbedingungen. Politik findet in Russland nicht mehr statt. Die Überwachung des Volkes steht der in China oder Nordkorea in nichts nach - nicht umsonst hegt man gute Beziehungen mit den Nachbarn. Das autoritäre Regime hat in den vergangenen 15 bis 20 Jahren jede Form von politischer Debatte mit alternativen Positionen in einem öffentlichen Raum, an der sich die Gesellschaft beteiligen kann, eliminiert. Insofern muss Putin auch kein Programm anbieten. Das, wofür er steht, ist vor allen Dingen der Krieg: Tschetschenien, Georgien, zwischendurch auch mal Syrien und zuletzt die Ukraine.

Jüngst kam es im russischen Staatsfernsehen zu einem Eklat. Ein Politikwissenschaftler sagte, dass es im Krieg äh der "Spezialoperation" überhaupt nicht um die Ukraine selbst gehe, sondern Russland sich auf einem Expansionskurs befinde – der über die Ukraine hinaus gehe. Daraufhin unterbrach der Moderator die Sendung mit den Worten, dass man nun wirklich dringend eine Pause machen müsste.

Das Wiederbeleben der ehemaligen Sowjetunion, deren Untergang Putin als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete, die Affinität zum alten Sowjet-Russland bestätigte auch die US-Historikerin Mary Sarotte. Damals verlief der "eiserne Vorhang" einmal quer durch Deutschland, mitten in Europa - weit weg von Moskau (fast 2.000 km). Als dieser fiel, erklärten primär an der Ostgrenze der ehemaligen UDSSR viele Staaten ihre Unabhängigkeit. Dadurch das seinerzeitige "Warschauer Pakt"-Staaten, nun Mitglied der NATO sind (Beispiel Polen, Ungarn, Rumänien) und mit dem Baltikum und jüngst Finnland die NATO-Außengrenze direkt an russisches Gebiet herangerückt ist, wird da jemand offensichtlich doch nervös (warum auch immer). Aktuell grenzen sechs NATO-Staaten mit insgesamt 2.590 km Länge an Russland.

Quelle: Toonpool.com

Unter anderem knüpft Putin für seinen Traum vom alten Mütterchen Russland wirtschaftliche Bündnisse. Wie auch China, investiert Russland z.B. massiv in afrikanische Länder, verleiht Gelder u.a. zum Aufbau von Infrastruktur. Putin hat vor geraumer Zeit afrikanischen Staaten Schulden in Höhe von nicht weniger als 20 Milliarden Dollar erlassen. Durch wirtschaftliche Abhängigkeit schafft man Beziehungen außerhalb des Embargos. Russland leitet Öl und Gas nun statt nach Europa nach China und Indien um - dort nimmt man es gerne. Die Hand, die einen füttert, beißt man bekanntlich nicht. Und umgekehrt funktioniert das auch: Chinas Banken unterstützen Russland mit Milliarden. Es gibt ja nicht umsonst die sogenannten "BRICS-Staaten", ursprünglich bestehend aus Brasilien, Russland, Indien und China und 2010 erweitert um Südafrika. Zu Jahresbeginn 2024 gesellten sich auch Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate in diese illustre Gesellschaft, nun zuweilen auch als "BRICS plus" bezeichnet.

Er träumt also von alten Sowjetzeiten, will Russland zu "alter Stärke" führen. Wie groß müssen Minderwertigkeitskomplexe des Mannes, der mit 1,70m Körpergröße sieben Zentimeter unter der des russischen Durchschnittsmannes liegt und deshalb gerne mal mit Schummel-Schuhen nachhilft, eigentlich sein? Die Gebiete, die seinerzeit zur Sowjetunion gehörten, heute aber eigenständig sind zählen eine Fläche von über 5,2 Mio. km² (Belarus und Ukraine eingerechnet). Der Fläche nach ist das heutige Russland mit etwa 17 Millionen Quadratkilometern immer noch mit Abstand der größte Staat der Welt und damit in etwa so groß wie China und Brasilien zusammen (Platz 4 und 5 im Ranking) - nur Kanada und die USA (Platz 2 und 3) sind zusammen größer. 

Exkurs: Bei Größenvergleichen werden entweder gerne das Saarland oder Fußballfelder herangezogen. Also gut: In das Saarland gingen theoretisch knapp 367.100 Fußballfelder, in Deutschland rund 139 "Saarländer". In Kanada, USA, China oder Brasilien würde Deutschland flächenmäßig jeweils rund 25x reinpassen, in Russland fast 48x. Exkurs Ende.

Russland umfasst etwa ein Neuntel der Landmasse der Erde (EIN NEUNTEL!), mit elf unterschiedlichen Zeitzonen: Während die Menschen in Wladiwostok (nahe dem Japanischen Meer) zu Mittag essen oder die Fischer in der Beringsee noch etwas weiter westlich bereits mit ihrem Fang nach Hause kommen, ist es in St. Petersburg an der Ostsee noch finsterste Nacht. Mit rund 145 Millionen Einwohnern steht es an neunter Stelle der bevölkerungsreichsten Staaten und ist zugleich dennoch einer der am dünnsten besiedelten. Vergleich: Die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde China und Indien haben jeweils rund 1,4 Milliarden Einwohner_innen. die USA knapp 333 Mio., Brasilien 215 Mio..

Quelle: bpb.de

Man sollte dennoch meinen, das ist eine gute Grundbasis, um damit einiges anfangen zu können, so wie Steckschaum für Floristen - ist ja schließlich nicht wie Monaco, wo sich 40.000 Menschen 2 km² teilen müssen. In Russland hat man Entfaltungsmöglichkeiten, oder besser "hätte". Von der Idee des Kommunismus (Stichwort alte Sowjetzeiten) ist heute auch wenig zu spüren, denn dieser beruht auf Ideen sozialer Gleichheit und Freiheit aller Gesellschaftsmitglieder, auf Gemeineigentum und kollektiver Problemlösung. Früher war gewissermaßen doch einiges besser - zumindest in der Theorie. Die Bevölkerung heute ist in weiten Teilen mehr als nur arm:

  • Das monatliche Durchschnittseinkommen liegt in Russland bei umgerechnet 255 Euro.
  • Die obersten 10% haben 636 Euro zur Verfügung.
  • Das oberste Prozent (1%!) 1.341 Euro
  • Das oberste 0,1% 3.338 Euro - alles monatlich!

Zum Vergleich: Mexiko 633 Euro, Polen 1.207 Euro, Deutschland 3.199 Euro, USA 5.266 Euro, Schweiz 6.917 Euro.

Es ist ein stückweit ähnlich wie in anderen Autokratien: In den großen Städten lässt es sich gut leben: Moskau, St. Petersburg oder auch Sotschi (mit gerade einmal rund 340.000 Einwohnern) machen schick was her: Bentleys, Maybachs und getunte Mercedes-Geländewagen mit verdunkelten Scheiben warten vor Luxuskaufhäusern und Edelrestaurants, über den blitzsauberen Fußgängerzonen hängen pompöse Leuchtgirlanden. Die in Lumpen gehüllten Mütterchen, welche sich mit dem Verkauf von Zigaretten vor U-Bahn-Stationen ein Zubrot verdienten, wurden längst verscheucht. Doch schon 80km südlich von Moskau beginnen die Probleme mit der Infrastruktur: Bei Temperaturen von um die -30°C quittieren viele Heizsysteme den Dienst, Strom fällt aus, Gas funktioniert nicht. Und auf dem Land leben Millionen teils ohne Strom oder sogar fließendes bzw. sauberes Wasser. Die Dorfbevölkerung lebt regelrecht von der Hand in den Mund und ist zudem überdurchschnittlich von Sozialleistungen und Pensionen abhängig. Was sie zugleich auch loyal zum Staat und damit zu Putin macht. Nicht umsonst rekrutiert Putin bevorzugt in den abgelegenen, wirtschaftlich schwachen Regionen neues Kanonenfutter für den Ukraine-Krieg - selbst vor Ungedienten, Kranken und Alten wird nicht Halt gemacht. Aber in Moskau erhalten Familien von eingezogenen Soldaten ja als Entschädigung einen Sack Kartoffeln und Karotten und Witwen russischer Soldaten werden mit Pelzmänteln „entschädigt“.

In Russland gehen die heutigen regionalen Unterschiede in großem Maße auf die 70 Jahre Planwirtschaft zurück. War doch nicht alles super in Sowjetzeiten.

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russland bislang geschätzt rund 211 Milliarden US-Dollar gekostet. Was hätte man mit diesen Unsummen nicht alles für das eigene Volk anstatt für das eigene Ego eines Einzigen stemmen können. Ganz zu schweigen von den schätzungsweise 315.000 russischen Soldaten die verwundet oder getötet wurden - vorsichtigeren Schätzungen zufolge belaufen sich die Verluste der russischen Armee auf mindestens etwa 250.000 Gefallene und Verletzte, davon über 150.000 irreversible Verluste (70.000 Gefallene und ebenso viele Schwerverwundete). Zum Vergleich: Im Vietnamkrieg starben zwischen den Jahren 1961 und 1975 rund 58.000 US-Soldaten - in vierzehn Jahren! Recherchen in den Statistiken von Russlands Nachbarländern sowie Daten der europäischen Grenzbehörde Frontex legen nahe, dass allein 2022 fast 500.000 Russen dauerhaft das Land verlassen haben. Vorwiegend natürlich junge Menschen, mit guter Bildung, die dem Staat nun fehlen. Seit Beginn des Krieges bis September 2023 haben zudem schätzungsweise mindestens 250.000 Militärdienstpflichtige Russland verlassen und Schutz in anderen Ländern gesucht. Das ist ein annähernd ähnlicher personeller Aderlass, wie ihn die DDR seinerzeit stets fürchtete, deshalb Mauern und Stacheldraht um seine Bürger_innen spannte und den sie zuletzt nicht mehr aufhalten konnte - allein 1989 verließen ca. 344.000 Menschen die DDR, was ca. 2% der Bevölkerung entsprach. Das Ende ist bekannt.

Es bleibt zu hoffen, dass die russische Bevölkerung die Hoffnung nicht aufgibt und nicht müde wird, trotz aller Repressalien für echte Demokratie, für Freiheit zu kämpfen.

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