Was wissen wir überhaupt über Afrika? Streng genommen: NICHTS! Extra3 hat das sehr schön in dieser Sendung konkretisiert. Auszug:
- Kann jemand auf Anhieb sagen, wo (zumindest in etwa) der Tschad liegt? Norden, Süden, Osten, Westen, hat der Tschad eine Küste? Nein, hat er nicht - er liegt (relativ) zentral.
- Zu schwer? na gut, etwas einfacheres... zumindest das größte Land Afrikas wird doch der eine oder die andere kennen? Ist auch gar nicht so weit weg, liegt am Mittelmeer... Richtig, Algerien. Mit rund 2,3 Mio. km² immerhin das zehntgrößte Land des Planeten und größer als beispielsweise Grönland, Mexiko oder Saudi-Arabien und rund 6,5 Mal so groß wie Deutschland.
- Wer weiß, von welchem Land Bengawe die Hauptstadt ist? Botswana? Liberia (nein, nicht Lybien - Liberia ist auch ein afrikanischer Staat)? Von keinem, diese Stadt gibt es gar nicht.
- Oftmals werfen wir gerne alles in einen Topf: Wenn afrkanische Mannschaften z.B. bei der WM gewinnen, denken nicht wenige "Jetzt freut sich bestimmt ganz Afrika!". Ist bei uns doch auch so: Wenn die Niederlande gewinnen, tanzt halb Deutschland auch auf den Straßen.
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55 Länder zählt der Kontinent - nur ein paar mehr als Europa, ist jedoch rund drei Mal so groß | (Quelle: Pixabay) |
Was man wissen sollte: Laut der Weltbank befinden sich 18 der 20 ärmsten Länder in Subsahara-Afrika. Die meisten extrem armen Menschen leben in den Ländern Nigeria, Demokratische Republik Kongo, Tansania, Äthiopien und Madagaskar. Und das obwohl Afrikas Rohstoffe mannigfaltig sind: Der Kontinent birgt die größten Reserven an Kobalt, Diamanten, Platin und Uran der Welt. Afrika verfügt über 40 Prozent des weltweiten Goldes und bis zu 90 Prozent der Bestände von Chrom und Platin. 12 Prozent der globalen Ölvorräte liegen dort sowie 7 Prozent des Erdgases. Warum ist die afrikanische Bevölkerung dennoch (überwiegend) so arm?
In der Hochphase des Imperialismus von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg entbrannte ein regelrechter Wettlauf um Afrika. In der Hochzeit war der komplette Kontinent unter europäischen Staaten aufgeteilt: Frankreich, Großbritannien, Deutschland. Aber auch Italien, Spanien, Portugal oder Belgien wollten ein Stück vom Kuchen. Nun könnte man meinen, der erste Weltkrieg liegt schon lange zurück - da gab es doch reichlich Zeit... die weit verbreitete Korruption, gravierend unterschiedliche Bedingungen in den einzelnen Ländern und die innerafrikanische Kolonialgeschichte standen und stehen einer positiven Entwicklung Afrikas genauso entgegen wie diverse Bürgerkriege.
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Quelle: Wikipedia |
Zudem profitierten in den afrikanischen Ländern nur einige wenige von besagten Rohstoffverkäufen. Mancherorts kam es zwar zu einem begrenzten Konsumanstieg in den Mittelklassen. Für die meisten Menschen ergab sich jedoch keine wirtschaftliche Perspektive. Der Abbau von Rohstoffen trug nicht nur zu ungleichen Einkommen, sondern auch zu sozialen Konflikten und gewaltsamen Auseinandersetzungen, (z.B. um die Kontrolle der Abbaugebiete) bei. Und er brachte auch massive Umweltschäden mit sich. Einige Ökonomen sehen den Rohstoffreichtum daher eher als „Fluch“, denn als Segen für den Kontinent. Afrika gilt als Spielball der globalen Rohstoffausbeutung.
Darüber hinaus: Afrika ist ein Kontinent der Diktatoren. Laut Demokratieindex der Zeitschrift „Economist“ sind lediglich neun der gelisteten 50 Staaten wirklich demokratisch regiert, mehr als die Hälfte steht unter autokratischer Herrschaft. Wahlen werden manipuliert, die Opposition unterdrückt, Demonstrationen gewaltsam aufgelöst. Zunehmend nutzen die Alleinherrscher auch elektronische Systeme, um ihre Macht zu sichern – und das weitgehend ungestört. Denn Europa und die USA schauen aus Angst vor ethnischen Konflikte viel zu oft weg.
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Militärputsch im Niger (Foto DPA) |
Diese Bilder, wo eine Gruppe Männer in Millitäruniformen verkündet, dass sie nun die Macht übernehmen, an sich gerissen haben, sind symbolisch. Anmerkung: Der Kollege auf dem Symbolbild oben sieht darüber hinaus besonders lächerlich aus, mit seinem blauen Jacket, den hochgekrämpelten Ärmeln und für ein Hemd scheint es beim Fototermin auch nicht gereicht zu haben. Es wirkt, als habe man ihn im Unterhemd schlafend mit den Worten geweckt "Hey, wir haben die Regierung gestürzt - du bist jetzt unser Anführer, hier zieh das an!".
Kann man es unter all den Bedingungen den Menschen dort wirklich verdenken, dass sie sich ein besseres Leben wünschen? Und wenn sie dies vor Ort nicht erreichen, aus eigener Kraft nicht bewältigen können, dass sie ihr Glück anderswo suchen? Wie groß muss die Verzweiflung sein, wenn man sich Tausende von Kilometer auf den Weg macht - nur als Beispiel: Vom besagten Tschad, bis zur lybischen Küste in Tripolis sind es bereits rund 1.000km und da muss man "nur" zwei Länder durchqueren. Meist zu Fuß. Ein Auto besitzen die wenigsten, Flugzeug kann sich ebenso kaum jemand leisten. Zumindest nicht diejenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen wollen. Politisch oder anderweitig Verfolgte haben das grundsätzliche Problem, das Land überhaupt verlassen zu können. So sind viele auf Schlepper angewiesen, welche den meisten alles jemals Ersparte für eine klapprige Fahrt mit 30 anderen in einem Transporter abköpfen. An der Küste angekommen, wartet ein Schlauchboot (!), mit dem die Reise dann gen Europa vollendet werden soll.
Zur Verdeutlichung: Der äußerste europäische Vorposten ist die zu Italien gehörende Insel Lampedusa. Die kürzeste Entfernung zwischen Lampedusa und Tripolis beträgt 296,68 km Luftlinie. Knapp 300km in einem Schlauchboot... mit nicht selten 50 anderen Menschen, teils Kleinkindern, dürftiger Versorgung, seine Notdurft verrichtet man im Mittelmeer. Überhaupt: Das Mittelmeer! Wir reden nicht über einen Baggersee oder die Elbe, auf der man gemütlich dahinschippert und im Notfall (irgendwie, vielleicht) zum Ufer kommen könnte (by the way: Kurz hinter Hamburg ist die Elbe 1,5km breit). Das Mittelmeer hat eine Fläche von rund 2,5 Millionen km² und ist bis zu 5.000m tief. Das arithmetische Mittel der höchsten Wellen, die im Mittelmeer gemessen werden, liegt bei etwa vier Metern - also ganz grob ein zweistöckiges Haus.
Und es ist nicht so, dass in Lampedusa, einer Insel mit 20,2 km² Fläche und knapp 6.500 Einwohnern, ein Boot am Tag ankommt oder ein paar. Zeitweise legen die Boote im Minutentakt an! Innerhalb weniger Stunden teils 120 Boote. Zuletzt waren zwischenzeitlich 6.800 Geflüchtete im Erstaufnahmelager der Insel untergebracht – obwohl dort nur für maximal 600 Menschen Platz ist. Man stelle sich vor, man lebt auf Borkum, praktisch der westlichste Außenposten Deutschlands in der Nordsee, ähnlich groß, ähnlich viele Einwohner wie Lampedusa. Und dort kommen beispielsweise tagtäglich Engländer_innen an, die vor den Folgen des Brexits flüchten (die englische Küste ist auch ähnlich weit entfernt). Okay, das ist vermutlich ein wenig überspitzt. Kaum ein/e Engländer_in wird sich in ein Schlauchboot setzen und auf Borkum Asyl suchen, klar, aber einfach nur mal um die Dimensionen zu veranschaulichen und das Ganze ein wenig näher an uns ranzurücken. Immerhin fliegen Engländer schon nach Polen zum Einkaufen und sparen dabei (trotz Flug und Übernachtung) ggü. dem Einkauf um die Ecke sogar immer noch Geld.
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Screenshot "Hart aber Fair" v. 18.09.2023: Ankunft von Booten auf Lampedusa |
Norbert Blüm hatte seinerzeit/zu Lebzeiten kritisiert, "Flüchtende sind keine Kartoffel- oder Mehlsäcke, über deren sachgemäße Lagerung man streitet“, so schrieb er in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung. „Wir reden über Flüchtlinge wie über Sachen und verstecken den Skandal der Herzlosigkeit in kalten Statistiken.“. Und weiter: "Wenn 500 Millionen Europäer keine fünf Millionen Flüchtlinge aufnehmen könnten, dann schließen wir am besten den Laden 'Europa' wegen moralischer Insolvenz.".
Recht hat(te) er!
Wovor haben wir diese Angst? Dass "die" uns "alles wegnehmen", wie Populisten gerne argumentieren? Geld, Jobs, Wohnraum? Der demografische Wandel kommt so sicher, wie das Amen in der Kirche. Laut statistischem Bundesamt kommen auf jede Familie/Frau derzeit 1,46 Kinder. Wenn also, im "Normalfall" zwei Menschen irgendwann ableben, haben sie (durchschnittlich) 1,46 Nachfahren. Da muss man kein Mathegenie sein, um herauszufinden, dass das eine gegenläufige Entwicklung ist: Es sterben mehr als nachkommen. Jede zweite Person in Deutschland ist heute älter als 45 und jede fünfte Person älter als 66 Jahre. Bereits in einer Pressemitteilung aus dem Jahr 2003 hieß es, im Jahr 2050 wird jeder Dritte in Deutschland 60 Jahre oder älter sein. Wer soll später mal all diese Renten zahlen? Die Bevölkerung wurde im letzten Jahrzehnt durch mehr Zuwanderung und Geburten etwas "verjüngt". So kamen seit 2010 stets mehr Menschen nach Deutschland als aus Deutschland wegzogen sind. Der Wanderungsüberschuss war besonders bei den Menschen im jüngeren und mittleren Alter deutlich. Bereits jetzt ist ein Abwärtstrend in den Bevölkerungszahlen abzusehen.
Die sogenannte Fachkräftelücke lag laut Institut der deutschen
Wirtschaft im Dezember 2022 bei 533.000. Die Zahl beinhaltet die offenen
Stellen, die rein rechnerisch nicht besetzt werden konnten, da es keine
passend qualifizierten Arbeitslosen für sie gab... oder Jobs, die niemand machen möchte (oder kann). Menschen aus Einwandererfamilien müssen mehr Bewerbungen schreiben, bekommen weniger Gehalt und werden seltener befördert. Das bremst nicht nur sie aus, sondern auch die Wirtschaft. Der Schaden ist enorm. Deutschland entgehen 100 Milliarden Euro – wegen mangelnder kultureller Vielfalt. Würde man sich hierzulande nicht so schwer tun, die Ausbildung einer syrischen Krankenpflegerin oder eines irakischen Arztes anzuerkennen, wären bedeutend weniger auf evtl. Hilfszahlungen angewiesen und würden sogar in die Sozialkassen einzahlen. Wird in Kasachstan das Dach wirklich so elementar anders gedeckt, dass man dieses Handwerk hier nicht zutraut? Und ja, bei den Beispielen war noch niemand aus Afrika dabei.
Was, wenn es dazu kommen sollte, dass wir - aus welchen Gründen auch immer - in diese Lage versetzt werden? Unser Lebensraum wird durch die klimatischen Veränderungen vernichtet. Das politische Klima verändert sich, es gibt (wieder) Verfolgungen? Schwer vorzustellen? Nur mal angenommen, wir müssten irgendwann eine Entscheidung treffen, alles zurücklassen, uns nur mit einem Bruchteil unseres Hab und Guts auf den Weg machen... tja, wohin eigentlich? Was wäre für uns das Ziel der Wahl? Welches der "gesicherte Hafen"? Könnten wir im fremden Land angekommen, auf entsprechende Unterstützung zählen? Heißt man uns willkommen oder begegnet man uns mit den gleichen Vorbehalten, derselben Skeptis?
Wir sollten uns vor Augen halten, dass jeder Mensch ein Ausländer ist - fast überall!
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